Vor 30 Jahren revolutioniert dieser
Mann mit „Frankie Goes To Hollywood“ den Pop. Dann entwischt er dem Tod
um Haaresbreite. Ein Abend mit Holly Johnson, über die Kunst, das Leben –
und die Kunst zu überleben.
Von Alexander Gorkow, Süddeutsche Zeitung Seite Drei, 18.10.2014
„The world is my oyster“ Holly Johnson, 1984
Es
ist ein goldener Nachmittag im Oktober, die Sonne wirft ein warmes
Licht auf den Westen Berlins und so auch auf die Terrasse des
italienischen Restaurants hinter dem KaDeWe. Holly Johnson will das
Hotel verlassen, in dem er seit dem Morgen Interviews gibt, er geht wie
ein Tänzer, die Fußspitzen nach außen, es ist ein athletischer, exakter
Gang, und beim Reden hier draußen, bis es stockfinster ist in Berlin,
ist es die Klarheit seiner Erscheinung, die korrekte Körperhaltung, die
mit der Klarheit seiner Sätze, seiner Gedanken, seiner leisen Trauer,
seiner großen Freude korreliert. Alles an ihm ist aufeinander
abgestimmt, selbst die Farbe der Krawatte auf seine Augen. Du weißt, ihm
gegenübersitzend: Der quatscht nicht, sondern der spricht. Der giggelt
nicht, sondern der lacht.
Er nimmt sich alle Zeit, aus dem
angedachten Termin werden etliche Stunden. Doch die ganze, grundsätzlich
heitere Akkuratesse seiner smarten Erscheinung warnt dabei in jeder
Sekunde: Lass sie uns nicht vergeuden, diese Zeit.
Am Vortag ist
Holly Johnson nach Berlin geflogen, sein Gepäck ist dabei verloren
gegangen, was für die meisten Menschen ein Problem ist und für ihn ein
großes Problem. Er ist ein Mann, noch lange nicht alt, aber auch nicht
mehr jung, er sieht sehr gut und sehr gesund aus, ist es aber nicht im
herkömmlichen Sinne. Wenn der Koffer mit den Medikamenten in London
zurückbleibt, ist er in Not, und es musste dann am Vorabend also ein
Notfallplan her, bis der Koffer wieder auftauchte.
Sein Leben,
das vor dreißig Jahren loderte und das vor zwanzig Jahren nahezu
erlosch, es hallt wie ein etwas irremachendes Echo in diesen
abklingenden Tag hinein; man denkt an das elegante, dunkle Tanzepos
„Welcome to the pleasuredome“ seiner alten Band Frankie Goes To
Hollywood . Darin zerschlägt er mit seinem „Ha!“ die Akkorde wie ein
Karatekämpfer einen Stapel Wackersteine. Dann war da diese unglaubliche
Ansage, ein gefährlicher Bariton, und die Dicke-Hose-Geste schlechthin:
„The world is my oyster“. Wer schuf das wahre Opus magnum der
80er-Jahre, den Pop für die Strände von Brighton und Ibiza wie für die
Schwulendiscos von New York oder München wie für die herrlichen
Proletenläden des Ruhrgebiets? Genau.
Als Holly Johnson das tat,
war er Anfang 20. Was ihn, abgesehen von der säuischen Konnotation, zu
der interessanten Parole mit der Auster bewogen habe? „Es fühlte sich
an, als ob ich in der Welt nicht, wie soll ich sagen, irgendwie
herumbrüte. Sondern: Sie gehört mir. Es ist meine Welt. Sie schmeckt
mir. Und dann verspeise ich sie.“
Wie lange war die Welt seine Auster?
„Die
Welt war für einen Tag meine Auster. Nein, um genau zu sein, halten wir
uns an Andy: Es waren exakt 15 Minuten.“ Er wischt durch die Luft:
„Sisssssssh, and over it was.“
Dass es später so war, dass die
Auster fast Holly Johnson verspeist hätte statt umgekehrt, das liegt
nicht in der Natur der Kunst, sondern in der Natur einer höhnischen
Instanz namens Schicksal. Die Haltung Holly Johnsons der Kunst wie dem
Leben gegenüber ist aber dieselbe: Es ist die Haltung des Helden hinter
der Maske des nonchalanten, dabei in Wahrheit todesmutigen Conférenciers
seiner eigenen Existenz. Wir werden sehen.
Dieses Leben beginnt
1960, es rauscht durch die 1970er in glühender Sehnsucht nach den space
cadetts Bowie und Bolan, es spuckt dann selbst Feuer mit Furor in den
Arenen der 1980er-Jahre, und dann rast dieses Leben mit einem Mal,
schwach und krank, Anfang der 1990er aufs Ende zu wie eine liebe, bunte
Mondrakete, die verglühen oder blöd durchs All schwirren wird für ewig.
In
Liverpool, um die Penny Lane herum, existiert ein Energiefeld, und
dieses Energiefeld ist ein real existierendes Wunder. Es versorgt die
mit den richtigen Antennen ausgestatteten Arbeiterkinder in einer rauen
Stadt mit Licht, Zuversicht und Humor. Eines dieser Kinder, der kleine
Holly, klebt in dieser Zeit ein Poster nach dem anderen über die Tapete
seines Kinderzimmers. Er hat sich entschieden: Für die Beatles, gegen
die Stones. Penny Lane is in my ears and in my eyes. Er sagt: „Du
musstest Partei ergreifen, Stones oder Beatles. Ich verehre die
Schönheit der Musik der Beatles, es ist eine endlose, nicht zu
erklärende Schönheit.“
Es waren die 1960er-Jahre, als die Welt so
schlecht war wie heute, aber voll unfassbar schöner Melodien. Der Junge
mit dem hübschen, zu Streichen aufgelegten Gesicht ist das, was Lehrer
in ihrem Wahn aus Gönnertum und Anmaßung als ein „sensibles,
aufgewecktes Kerlchen“ bezeichnen. Menschen, die ihm so kommen, wird das
sensible, aufgeweckte Kerlchen bald brüskieren, indem er eine Musik in
die Welt setzt, bei der Lehrer tomatenrot werden. Zunächst aber schreibt
der kleine Holly Gedichte, und er spielt lieber mit den kleinen
niedlichen Mädchen als mit den kleinen bescheuerten Jungs. Wird
erwachsen. Wird schwul. Wird wütend. Beginnt ein Kunststudium. Träumt
vom Ruhm: „Ich bin in Liverpool, wie soll ich sagen, gewissermaßen aus
dem Fenster des Art College und hinein in die Karriere eines Popstars
gefallen.“ In den 1980erJahren, als die Welt so schlecht war wie heute,
dazu voller schlimmer Möbel, scheußlicher Kleider und grotesker
Frisuren, konnte Pop noch Leben retten. Er war keine ausschließlich
frivole, sondern schon auch eine bedeutende Sache.
Der schwule
Holly und sein schwuler Schnurrbartkumpel Paul Rutherford jedenfalls
hatten sich nach einer Kurzkarriere in der angesagten, aber erfolglosen
Undergroundband Big In Japan mit ein paar heterosexuellen Rockmusikern
zusammengetan, und so gründeten „fünf Knalltüten aus Liverpool“ ( Die
Zeit , 1985) in London Frankie Goes To Hollywood. Man kann die Freude,
die dieses Zeichensystem aus pumpenden Beats, tief ein- und ausatmenden
Arrangements, 60-Mann-Orchestern und dem sensationellen Sänger Holly
Johnson damals auslöste, leicht wieder einfangen: Zum Beispiel ist es
amüsant, die irre schlecht gelaunten Zeitungsartikel noch einmal zu
lesen. Frankie sind eine Band, die in der Sekunde ihres Erscheinens
wegen des versauten Textes des Monsterhits „Relax“ („Es ist der Song,
der das Jahr 1984 verspeiste“, schreibt das Magazin Word ) einen Skandal
auslöst. Die BBC übt Zensur aus. Die Feuilletonisten hingegen sind, wie
es ihre Art ist: misstrauisch. Will man sie etwa an der Nase
herumführen? Ein Crooner, der aussieht, als ob er ein Klappmesser mit
sich führt, dazu dieser unfassbare Tänzer mit dem Schnurrbart? Diese
postnukleare Version der „West Side Story“ ist too much und jedenfalls
sehr verdächtig.
Frivol und heroisch: Holly Johnson, der sich als
Kunstliebhaber schon damals mit der Macht der Zeichen auskennt und als
Liebhaber der Bücher von Genet und Burroughs auch mit der Sprache der
Provokation, er sagt heute mit dieser scharfen Intonation aus Liverpool:
„Der tanzende Paul war die erste, vollkommen eindeutige Gay-Konnotation
in der Popgeschichte. Wer hat es zugegeben? Freddie Mercury nicht
wirklich bis einen Tag vor seinem Tod, Boy George nicht . . . Die
Plattenfirmen wollten es nicht. Du sagst, du bist schwul, und schon
verkaufst du keine Platten mehr im Mittleren Westen der USA. Es war
dieselbe deprimierende, subtile wie strukturell faschistische
Schwulenfeindlichkeit, die es immer noch gibt. Du hast sie im
Profi-Fußball. Du hast sie in Hollywood.“ Seine Heiterkeit wird ein
wenig bitter, aber selbst seine Bitternis serviert er süßsauer: So
spricht ein angefasster Mann, der aber trotzdem von einer Sekunde auf
die andere mit Melone und Stock auf nassem Asphalt „Singin’ in the rain“
vortragen könnte.
Er steht damals im Vivienne-Westwood-Anzug in
den Konzerthallen und ruft den Zigtausenden zu: „Pleasuredome, errrect!“
und „I’m shooting in the right direction“, und das nun war keine
Anspielung auf eine Smith & Wesson, sondern auf etwas viel Härteres,
meine Damen und Herren. Und es sprach ja nicht zuerst schwule
Clubgänger an, sondern vor allem das verwirrte, hedonistische
Heteropublikum einer ratlosen Epoche: „Schwule wollen auf der Bühne
dezidiert keinen kleinen Mann aus Liverpool“, sagt er, „sie wollen eine
Göttin: Kylie, Madonna, Barbra Streisand, Kate Bush.“
Noch immer
neigt er dazu, sich etwas kleiner zu machen, als er ist. Dabei war er
schon damals das, was einer der interessantesten Musiker der deutschen
Gegenwart, der Pianist, Komponist und Stimmperformer Jens Thomas, heute
als „perfekte Pop-Art“ bezeichnet: „Schon die alten Hits von Johnson,
wie ‚The Power Of Love‘ oder ‚Welcome To The Pleasuredome‘ bewegen sich
phantastisch zwischen Pop-Irrsinn und echter Kunst, das ist großes Kino
und richtig gutes, sehr individuelles Songwriting. Vor allem ist da
seine starke Stimme, er ist ein wirklich brillanter, facettenreicher
Sänger. Und diese Mischung aus handwerklichem Können, emotionaler Tiefe
und Popappeal ist extrem außergewöhnlich. Ich fürchte, dass dies alles
in dem Hype um seine alte Band damals etwas untergegangen ist.“
Allein
die Qualitätspresse jammert in den 80ern das Ende der „handgemachten“
Musik herbei, als würde das, was Frankie macht, mit den Füßen
hergestellt. Die große Frage: Ist diese Band nun ein Hochamt des
Kapitalismus, oder ist sie hoffentlich die ironische Apokalypse
desselben? Kratzkratz. Grübelgrübel. Die Zeit klagt im Herbst 1984, da
rasten Millionen junge Menschen seit Monaten zu dieser Musik aus:
„Diesen grellen Animierklängen fehlt die anima, die Seele.“ Im Visier
der Feuilletons befinden sich damals neben Holly Johnson, der jede
Songzeile und jeden Ton zuvor zu Papier bringt, vor allem: der Produzent
Trevor Horn sowie der Manager Paul Morley, ein ehemaliger
Musikjournalist, der auf die Idee gekommen war, dass es profitabler und
unterhaltsamer ist, im Zirkus mitzumachen, statt nur über ihn zu
schreiben und jungen Menschen den Spaß zu verderben.
Beide
verkaufen Frankie als mit politischer Provokation und Sex aufgeladene
Disco-Oper; eine exakt zwei Langspielplatten währende Großperformance,
zu deren perfekter Pop Art auch eine bis dato unvergleichliche
Merchandisingmaschine gehört. Frankie funktioniert als Oberflächenkunst
wie eine göttliche Halluzination Warhols, der die Band in den Jahren vor
seinem Tod sehr bewundert. Alleine das T-Shirt mit der Aufschrift
„Frankie sagt: Bewaffnet die Arbeitslosen!“ geht im wirtschaftlich
ruinierten England mehr als 100 000 Mal über die Theke. Das Fachblatt
Music Week ist fassungslos: „Wären diese T-Shirts Platten, sie hätten
Platz 3 in der Hitparade belegt!“ So geht, als es das noch nicht gibt:
virales Marketing.
Das beste B-Movie der Popgeschichte endet
1987, als sich Johnson mit Trevor Horn und Paul Morley überwirft, die
Band verlässt und wegen eines Knebelvertrags einen jahrelangen
Rechtsstreit mit Horn und dessen Plattenfirma eingeht. Den Streit
gewinnt Johnson zwar, aber man muss sagen: Seine Kunst war mal ins Leben
getreten mit der Macht einer Planierraupe – und kalt und stumpf schlägt
das Leben nun zurück. Bei Holly Johnson tritt bald das Schicksal auf
den Plan, es trägt eine schwarze Kapuze. Aus dem Nachmittag in Berlin
ist, als man an diesem Punkt seines Lebensechos angekommen ist, Abend
geworden, und Johnson sagt: „Es steht mir nicht zu, in Selbstmitleid
auszubrechen.“
Er war bei Frankie der, der wenig trank und keine
Drogen nahm, „weil ja wenigstens einer von uns nüchtern bleiben und
morgens aufstehen musste“. Im Herbst 1991 sitzt er dann nüchtern und
morgens in einer Klinik an der Themse – und erfährt, dass er HIV-positiv
ist. Er hat einen deutschen Freund, Wolfgang, der ein
Cateringunternehmen in der Londoner City leitet. 1991 führen die beiden
schon lange ein leises Leben, seit 1985 wohnen sie in ihrem Häuschen im
Westen Londons. Wolfgang, 15 Jahre älter, liebt klassische Musik und
Literatur. Holly feiert seine Solohits „Americanos“ und „Love Train“.
Wolfgang hat Jahre zuvor ebenfalls einen positiven Test erhalten. Nach
Wochen der Todesangst stellte der sich dann als Fehldiagnose heraus.
Holly
Johnsons Diagnose in diesem Oktober 1991 ist hingegen zweifelsfrei.
Wenige Wochen später stirbt Freddie Mercury. Die Ärzte raten Holly
Johnson, seine Tage zu nutzen. Er unterbricht sich beim Erzählen nun
selbst, macht eine ersichtliche Pause, dann sagt er: „Es ist sonderbar,
und es ist aber vermutlich auch wichtig: Ich lasse in meiner Erinnerung
aus dieser Zeit immer nur diese eine Szene zu: dass wir allein zu Hause
sind. Wolfgang und ich. Und dass er sich um mich kümmert. Rund um die
Uhr. Die ganze Zeit.“
Er sieht schlecht aus damals. Gerüchte
machen die Runde. Er ruft einen befreundeten PR-Agenten an, der ein
Treffen mit einem Journalisten der Times arrangiert. Man einigt sich
darauf, dass er in der Times nach Ostern 1993 seine Infektion
bekanntgeben wird. Er möchte alles zuvor in Ruhe mit seinen Eltern
besprechen. Johnson bereitet sich auf die planmäßige Landung seiner
Geschichte vor – als das Trashblatt The Sun Wind von der Sache bekommt.
Drei Tage vor Ostern klingelt der Reporter der Sun an der Tür von Hollys
Eltern in Liverpool. Holly Johnson ist am nächsten Tag der erste
offiziell schwule Mainstream-Popstar. Er ist auch der erste offiziell
HIV-positive Mainstream-Popstar. Du bist jetzt einsam, Holly.
Im
September 1994 erzählen die Blätter vom Kaposi-Sarkom, und davon, dass
ihm diese Wucherungen auf der Haut entfernt worden sind. Ist Aids heute,
2014, eigentlich vergessen? Das große Sterben dieser jungen Menschen in
unseren Städten, vor allem in der ersten Hälfte der 1990er? Vergessen
wir viele dieser Toten, den teils unverhohlenen Hass auf diese Menschen,
weil es damals noch kein Internet in dem Sinne gab? Schon 1987 will der
bayerische Innenminister Peter Gauweiler das Bundesseuchengesetz auf
Aids-Kranke anwenden. Im selben Jahr bringt der Republikaner Jesse Helms
in den USA einen Gesetzesvorschlag ein, der vorsieht,
Aufklärungskampagnen zu verbieten, „weil sie homosexuellen Aktivitäten
Vorschub leisten“. William Buckley, der Gründer der rechten National
Review , fordert 1986, HIV-infizierten eine Markierung auf eine Pobacke
zu tätowieren. Der Reagan-Mitarbeiter Pat Buchanan bezeichnet Aids als
„Rache der Natur an den Schwulen“.
Die Zeitschrift Tempo fragt
Holly Johnson 1994 in einem Londoner Hotel: „Müssen Sie nicht ständig
daran denken, wie lange Sie noch haben?“ Die Zeitschrift Tango (die
ironischerweise kurz darauf eingeht) schreibt unter der Überschrift
„Frankie – Nie mehr nach Hollywood“ nach einem Treffen mit Holly Johnson
in einem Londoner Café: „Am Rücken juckt es. Er kratzt sich . . . Er
weiß, dass der Tod nicht mehr lange wartet."
Was kann man aushalten?
„Diese
Frage spielte für mich bald keine Rolle mehr. Was man aushalten kann?
Keine Ahnung. Das Leben ist hart, oder? Aber was wäre passiert, wenn ich
mich auf den Hass oder auch nur die Ignoranz eingelassen hätte? Noch
einmal: Ich neige nicht dazu, mich mit Selbstmitleid aufzuhalten.“
Pause. „Und: ich hatte ja Wolfgang.“
Kokettes Lächeln.
Er
bestellt nun einen heißen Kakao. Es wird etwas frisch. Dann sagt er:
„Ich war auf sehr vielen Beerdigungen von sehr vielen großartigen,
talentierten, sehr jungen Menschen.“ Man will weiterfragen, da fügt er
an, ernst und leise: „Da ist dieser Auftrag hier, mein Lieber: Ich,
Holly, soll mein Leben mit Sinn, Schönheit und Liebe füllen. Ich bin es
denen schuldig, die zu jung gestorben sind. Verschwende deine Zeit?
Nein. Es ist alles ganz, ganz einfach.“
Was soll man sagen?
Peinlicherweise sagt man nichts. Dann lacht er laut auf und wischt die
herumflirrende Ergriffenheit davon: „Es ist ja kein Heldentum. Es ist
nur eine Frage der Einstellung, okay? Es ist, wie so vieles: eine Frage
des Stils.“
Der junge Holly Johnson stirbt damals also haarscharf
nicht . Mitte der Neunziger kommt die Kombinationstherapie auf den
Markt, die ihm und Millionen weiteren HIV-Infizierten das Weiterleben
ermöglicht. „Träume sind wie Engel / Sie halten das Böse im Zaum“, singt
Holly Johnson in „The Power Of Love“, diesem zum Verrücktwerden
perfekten Popsong. Neulich erschien ihm ein toter Freund. Er wurde nur
31 Jahre alt. In einem kristallklaren Traum begegnete Johnson ihm,
während er am Fluss spazieren geht. Der Freund umarmt ihn und sagt dann
nur: „Alles ist gut.“
Die bewegende Ballade über diesen Traum
heißt „You’re In My Dreams Tonight“, sie findet sich auf „Europa“ – es
ist seine erste Platte seit 15 Jahren, und das hört man ihr an: Sie ist
ein farbenfrohes, dichtes, zugleich behutsames Kompendium, eine Art
Autobiografie, und sie erinnert an den unschuldigen, naiven Elektropop
der erwähnten Sommerstrände von Brighton, sie erinnert aber in den
dramatischeren Stücken auch an Burt Bacharach. Vor allem sind einige
umwerfende Balladen auf dieser CD, an der noch der jüngst verstorbene
House-DJ Frankie Knuckles mitgearbeitet hat und auch Phil Manzanera von
Roxy Music . Holly Johnson geht jetzt auf Tournee, zunächst in England,
im Dezember kommt er dann für Konzerte nach München, Stuttgart, Köln und
Berlin. Er sagt „All the Hits“, dann breitet er die Arme aus wie
Paulchen Panther und ruft: „And more!“
So ist das also, wenn das
Leben weitergeht. Wie gesagt, es umweht die Jungs von der Penny Lane
dieses Energiefeld, es handelt sich dabei um ein Wunder. „Nur, überleben
alleine? So aufregend ist das nicht, oder?“
Die Liebe. Es beginnt nun gewissermaßen der bürgerlich-komödiantische Epilog.
Man
muss sich das Leben von Holly, 54, und Wolfgang, 70, als
hochkultivierte, etwas verschrobene Existenz vorstellen. Holly malt eine
feine und ironische Pop Art, mexikanische Murals sind zu erkennen, wie
auch Tom of Finland und Basquiat, seine Bilder hingen in der Tate
Liverpool wie in Londons Royal Academy. Für ein Textporträt im
Independant traf er sich gerade mit der 82-jährigen Pop-Art-Legende Sir
Peter Blake, man versicherte sich gegenseitiger größter Wertschätzung.
Wolfgang liebt klassische Musik, vor allem die „Zauberflöte“, die in
jeder erdenklichen Aufnahme von Wert durch das Haus hallt. Wenn nun die
Nachbarn rechts und zugleich die Nachbarn links ihre Keller ausbauen, um
im obszön teuren London mehr Wohnraum zu schaffen, so machen Wolfgang
und Holly das, was Kulturbürger mit grauen Schläfen tun: Sie fragen
höflich nach, wie lange noch mit der Beeinträchtigung der Mittagsruhe zu
rechnen sei. Zu Heiligabend wird Wolfgang eine Gans zubereiten, dazu
einen Riesling öffnen, auch Holly trinkt dann ein Glas, das einzige in
diesem Jahr, und am Morgen des 25. Dezember wird er, für den die Welt im
Feuer explodierender Konzertarenen nichts war als eine zu
verschlingende Auster, wegen dieses einen Glases Riesling dann mit
Kopfschmerzen erwachen: „Ich werde wehklagen wie ein lächerlicher,
antiker Gott. So ist es jedes Jahr. Es ist unser Ritual.“
Ob man ein schönes Lokal wisse, das er am nächsten Abend in Berlin besuchen könne?
„Ottenthal“, Kantstraße.
Er erstarrt. Er zieht eine Augenbraue hoch. Er wird tatsächlich etwas rot: „Wie war der Name der Straße?“ Pause. „ Cuntstraße ?“
Der
kleine Holly von der Penny Lane ist ein sensibles, aufgewecktes
Kerlchen. Er säuselt: „Du braucht es mir nicht aufzuschreiben. Diesen
Straßennamen werde ich keinesfalls vergessen.“
Zum Abschied sagt er: „You take care.“
Zurück bleibt Licht.
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